Die folgenden Empfehlungen beziehen sich auf die sog. Schulmyopie und nicht auf spezielle Formen im Rahmen von anderen Augenerkrankungen oder einem Auftreten im Kleinkindesalter.
Weltweit hat Myopie über die letzten Jahrzehnte zugenommen. Aus asiatischen Ländern werden im jüngeren Teil der Bevölkerung Raten von 80 bis teilweise über 90 % berichtet (1). In Europa liegt die Rate knapp unter 50 % (2). In den letzten ca. 20 Jahren hat die Myopierate in Deutschland jedoch nicht weiter zugenommen (3) (4).
Die Hauptrisiken bei insbesondere hoher Myopie sind vor allem die myopische Makuladegeneration, gefolgt von Netzhautablösung und in geringerem Maße grauer und grüner Star (5).
Aus vielen Studien ist bekannt, dass der Brillenwert der Eltern ein starker Prädiktor für die Myopieentwicklung des Kindes ist (6) (7). Myopie der Eltern verdoppelt das Myopierisiko ihrer Kinder. Ferner korrelieren Nahsichtdauer und Leseabstand mit Myopie und ihrer Progression. So steigt mit jeder Stunde Naharbeit pro Woche das Myopierisiko um 2 % (8). Eine Outdoorzeit von zwei Stunden / Tag halbiert das Myopierisiko und verlangsamt die Progression um 0,13 Dioptrien (dpt) / Jahr (9).
Neben diesen Hinweisen zur Gestaltung des Alltags beruhen progressionsmindernde Maßnahmen auf den zwei Säulen 1) Augentropfen mit niedrigdosiertem Atropin und 2) optische Korrektur der sog. peripheren Bildschale.
Fast alle kontrollierten Studien zur Sicherheit und Wirkung von niedrigdosiertem Atropin mit Evidenzniveau Level 1 stammen bisher aus Asien (10): Nach der ATOM-Studie aus Singapur, welche den weltweiten Einsatz von 0,01 % Atropin angestoßen hat (11), war die zweite Studie im Niedrigdosisbereich die sog. LAMP-Studie aus Hongkong. In dieser Studie wurden 0,01 %, 0,025 % und 0,05 % Atropin gegen Placebo verglichen (12). Nach der LAMP-Studie wurde 2021 eine dritte randomisierte klinische Studie aus China publiziert: 220 Kinder wurden auf 0,01 % oder Placebo randomisiert (15). Nach einem Jahr betrug die Progression in der Placebogruppe 0,76 dpt, in der Atropin-Gruppe 0,49 dpt.
Die Dauer der Atropintherapie beträgt mehrere Jahre. Je früher die Therapie beginnt, umso größer ist ihr Nutzen, da die Myopie gegen Ende des Grundschulalters eine höhere Progression aufweist als in den Folgejahren und mit 14 bis 16 Jahren dann meist so gering ist, dass die Therapie nicht mehr sinnvoll ist.
Kurzsichtigen Kindern im Alter zwischen ca. 6 und 14 Jahren und beobachteter Progression von ≥ 0,5 dpt / Jahr sollte somit 0,01 % Atropin angeboten werden. Diese Tropfen werden einmal vor dem zu Bett gehen in beide Augen getropft und sollen konservierungsmittelfrei zubereitet werden. Eine geringe Pupillenerweiterung von ca. 1 mm ist am Morgen häufig zu beobachten. Mit einer Nahsehschwäche ist in der Regel nicht zu rechnen (16).
Am 19. Oktober 2021 wurde in Freiburg der erste Patient in die multizentrische, deutsche AIM-Studie eingeschlossen (www.aim-studie.de). In diese Studie werden 300 Kinder im Alter zwischen 6 und 12 Jahren (das Kind darf gerade nicht 13 Jahre geworden sein) bei einer Refraktion im Bereich von -1 bis -6 dpt und einer geschätzten Progression von ≥ 0,5 dpt / Jahr auf 0,02 % Atropin oder Placebo randomisiert. Im zweiten Studienjahr erhält die Placebo-Gruppe ebenfalls Atropin in der Konzentration 0,01 %. Insgesamt dauert die Studie drei Jahre. Beide Augen erhalten in dieser Zeit während zwei Jahren niedrigdosiertes Atropin.
Allen optischen Methoden ist gemeinsam, dass die sog. periphere Bildschale durch eine multifokale Optik vor die Netzhaut „gelegt“ wird bzw. eine zweite Bildschale vor der Peripherie der Netzhaut liegt und damit ein Stoppsignal für das Augenwachstum darstellt. In der randomisiert kontrollierten BLINK-Studie (17) wurden z.B. knapp 300 Kinder auf Monatslinsen randomisiert, die entweder monofokal oder multifokal mit +1,5 dpt oder +2,5 dpt waren. Die Studiendauer betrug drei Jahre und es zeigt sich ein progressionsmindernder Effekt von ca. 50 % für die Linse mit der stärkeren Nahaddition. Eine sehr ähnliche Studie mit multifokalen Tageslinsen bestätigt diese Daten (18). Orthokeratologische Linsen verfolgen das gleiche Prinzip und sind vergleichbar wirksam (22)
Ein ganz ähnliches optisches Konzept wurde zwischenzeitlich in Form spezieller Brillengläser realisiert. Hierbei haben Brillengläser in der mittleren Peripherie eine Vielzahl kleiner Pluslentikel eingeschliffen, welche einen zweiten Fokus vor der peripheren Netzhaut generieren, welches ein Augenwachstums-Stoppsignal darstellt. Diese Spezialbrillengläser werden inzwischen von mehreren Herstellern angeboten. Randomisierte, kontrollierte Studien der Hersteller (19) (20) haben einen progressionsmindernden Effekt von ca. 50 % nachgewiesen.
Die Indikationsstellung und Behandlungsdauer bei optischen Therapien entspricht im Wesentlichen der Atropintherapie. Studien aus dem asiatischen Raum zeigten, dass Orthokeratologie und Atropintherapie additiv wirken (22). Daher ist es nicht unwahrscheinlich, dass dies auch für die Spezialbrillengläser / multifokale Kontaktlinsen und die Atropintherapie gilt.
1. Dolgin E. The myopia boom. Nature. 19. März 2015;519(7543):276–8.
2. Williams KM, Verhoeven VJM, Cumberland P, Bertelsen G, Wolfram C, Buitendijk GHS, u. a. Prevalence of refractive error in Europe: the European Eye Epidemiology (E(3)) Consortium. Eur J Epidemiol. April 2015;30(4):305–15.
3. Wesemann W. [Analysis of spectacle lens prescriptions shows no increase of myopia in Germany from 2000 to 2015]. Ophthalmol Z Dtsch Ophthalmol Ges. Mai 2018;115(5):409–17.
4. Schuster AK, Krause L, Kuchenbäcker C, Prütz F, Elflein HM, Pfeiffer N, u. a. Prevalence and Time Trends in Myopia Among Children and Adolescents. Dtsch Arzteblatt Int. 11. Dezember 2020;117(50):855–60.
5. Tideman JWL, Snabel MCC, Tedja MS, van Rijn GA, Wong KT, Kuijpers RWAM, u. a. Association of Axial Length With Risk of Uncorrectable Visual Impairment for Europeans With Myopia. JAMA Ophthalmol. 1. Dezember 2016;134(12):1355–63.
6. Enthoven CA, Tideman JWL, Polling JR, Tedja MS, Raat H, Iglesias AI, u. a. Interaction between lifestyle and genetic susceptibility in myopia: the Generation R study. Eur J Epidemiol. August 2019;34(8):777–84.
7. Ghorbani Mojarrad N, Williams C, Guggenheim JA. A genetic risk score and number of myopic parents independently predict myopia. Ophthalmic Physiol Opt J Br Coll Ophthalmic Opt Optom. September 2018;38(5):492–502.
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11. Chia A, Chua WH, Cheung YB, Wong WL, Lingham A, Fong A, u. a. Atropine for the treatment of childhood myopia: safety and efficacy of 0.5%, 0.1%, and 0.01% doses (Atropine for the Treatment of Myopia 2). Ophthalmology. 2012;119(2):347–54.
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13. Yam JC, Li FF, Zhang X, Tang SM, Yip BHK, Kam KW, u. a. Two-Year Clinical Trial of the Low-Concentration Atropine for Myopia Progression (LAMP) Study: Phase 2 Report. Ophthalmology. Juli 2020;127(7):910–9.
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17. Walline JJ, Walker MK, Mutti DO, Jones-Jordan LA, Sinnott LT, Giannoni AG, u. a. Effect of High Add Power, Medium Add Power, or Single-Vision Contact Lenses on Myopia Progression in Children: The BLINK Randomized Clinical Trial. JAMA. 11. August 2020;324(6):571–80.
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19. Lam CSY, Tang WC, Tse DY-Y, Lee RPK, Chun RKM, Hasegawa K, u. a. Defocus Incorporated Multiple Segments (DIMS) spectacle lenses slow myopia progression: a 2-year randomised clinical trial. Br J Ophthalmol. März 2020;104(3):363–8.
20. Bao J, Yang A, Huang Y, Li X, Pan Y, Ding C, u. a. One-year myopia control efficacy of spectacle lenses with aspherical lenslets. Br J Ophthalmol. 2. April 2021;bjophthalmol-2020.
22. Kinoshita N et al. Efficacy of combined orthokeratology and 0.01% atropine solution for slowing axial elongation in children with myopia: a 2year randomised trial. Scientific RepoRtS | (2020) 10:12750 | https://doi.org/10.1038/s41598-020-69710-8